Der Prinz von El Dorado
literatur
1533, Cajamarca im peruanischen Hochland
Einige Konquistadoren gingen bei der Verteilung des Goldes leer aus, andere wollten mehr.
Kurze Zeit später ging das Gerücht um, östlich der Kordilleren, tief im Dschungel des Amazonas, liege ein Land verborgen, dessen Bewohner reich verzierten Goldschmuck trügen und dessen Herrscher die Gewohnheit hätte, all morgens nach dem Frühstück und vor dem Bad im See seinen Körper mit Goldstaub zu bedecken. Man nannte es das Land des El Dorado. Scharen enttäuschter und goldsüchtiger Konquistadoren machten sich auf, dieses sagenhafte Land zu finden und zu erobern. Viele von ihnen erfroren in den Höhen der Anden, starben vor Hunger oder wurden vom Fieber dahingerafft, andere brachten sich aus Missgunst und Misstrauen gegenseitig um. Einige wenige erreichten nach monatelangen Strapazen das Tiefland des Amazonas und brachten mit ihrer Goldgier die dortige Bevölkerung in Verwirrung.
Prinz von El Dorado
Kapitel 1
„Das ist ja zum aus der Haut fahren!“
(Apostel Bartholomäus)
Eines Nachts, irgendwo im Urwald Amazoniens
Als er damit fertig war, sah er sich die Statue genauer an.
Sie stellte einen Golfspieler dar, der gerade seinen Schläger hochhielt, um damit einen Schlag zu vollführen.
Dies verwirrte den Archäologen, denn wie ein spanischer Eroberer des 16. Jahrhunderts zu einer Golftrophäe aus Bronze kam, konnte er sich schlichtweg nicht erklären.
Fragend schaute er sich um. Dann sah er einen grossen Paranussbaum, der nahe seinem Zelt aus dem Waldboden herausragte. Im Baumstamm dieses Baumes waren die Worte eingeritzt:
(Apostel Bartholomäus)
Personen:
Konquistadoren: Guillermo de la Hierba der Zweifelnde
Alfonso de Rojas der Brutale
Hernando Pinzón der Gierige
Geistlicher: Pater Thomas de Valverde der Fromme
Eingeborener: Ruka
Auf einer kleinen Lichtung im Wald brennt ein Lagerfeuer. Myriaden von Insekten schwirren durch die Luft und erzeugen ein dauerndes Surren, das sich mit dem Quaken brünstiger Frösche zu einem dichten Klangteppich vereint. Hin und wieder ist der Schrei eines Brüllaffen zu hören, der, hoch oben in einem Baumwipfel schlafend, aus einem bösen Traum aufgeschreckt ist und sein Unbehagen darüber kundtut.
Vier Männer sitzen ums Feuer. Drei von ihnen tragen einen eisernen Brustpanzer, der vierte ist in eine braune Mönchskutte gewandt. Etwas abseits sitzt ein nackter Eingeborener, die Hände über dem Kopf an einen Baum gefesselt.
Über dem Feuer hängen, auf einer Lanze gespiesst, die Reste eines menschlichen Wesens.
Hernando: „Und du bist sicher, dass sie keine Menschen sind, Hochwürden?
Schliesslich haben sie fünf Finger an jeder Hand, genau wie wir.“
Hernando betrachtet das Fleischstück, das er in den Händen hält. Umständlich, so als würde es ihm viel Mühe bereiten, bis fünf zu zählen, geht er jeden einzelnen der fünf Finger durch, die aus dem leicht verkohltem Stück Fleisch ragen. Neben Hernando sitzt Guillermo und spielt mit Glasmurmeln.
„Eins...zwei...drei...vier...“
Bei Fünf angelangt stösst Hernandos Kopf vor und beisst einen der Finger ab. Er schreit auf.
„Aua...Gottverfluchte Scheisse...was zum Teufel...“
Aus seinem Mund zieht Hernando einen silbernen Ring. Verstohlen blickt er sich um. Niemand scheint ihn zu beachten. Alfonso und der Pater sind mit ihrem Essen beschäftigt, und Guillermo ist in sein Glasperlenspiel vertieft. Er ordnet die Murmeln zu seinen Füssen zu eigenartigen Mustern, die er dann mit Interesse betrachtet, als könnte er darin irgendwelche Botschaften lesen. Der Eingeborene, der etwas abseits am Baum gefesselt ist, sieht ihm dabei interessiert zu.
Also steckt Hernando den silbernen Ring in die Hosentasche. Kurz fasst er sich mit den Fingern an den oberen Schneidezahn, um zu prüfen, ob alles heil geblieben ist, nachdem er so vehement in den Silberring gebissen hat. Er wackelt daran, dann grunzt er befriedigt und widmet sich wieder seinem Essen.
Alfonso: „Auch das Schwein hat bloss ein Arschloch. Doch ist das Schwein deswegen ein menschliches Wesen?“
Alfonso nagt genüsslich an einem gut durchgebratenen Unterschenkel, und der Saft trieft aus seinem kauenden Mund.
Guillermo betrachtet die Murmeln, die vor ihm am Boden aufgereiht liegen, und kratzt sich dabei unter seinem Kopfverband. Die Wunde, die sein fehlendes linkes Ohr hinterlassen hat, ist zwar ausgeheilt, doch manchmal, besonders bei Vollmond, juckt ihn die Narbe noch immer ziemlich böse.
Es sind grüne, gelbe und rote Murmeln, die Guillermo zu fünf Reihen geordnet hat. Aus der ersten Reihe entnimmt er eine rote Murmel und ersetzt sie durch eine gelbe aus der vierten Reihe. Dann fügt er zur fünften Reihe noch eine grüne Murmel hinzu.
Damals in Cajamarca hat man ihm gesagt, mit Glasperlen liessen sich gute Geschäfte machen mit den Wilden. Die Wilden seien ganz besonders versessen auf farbige Glasperlen. Also besorgte er sich diese Murmeln, bevor sich sein Trupp zum Marsch über die Kordilleren aufmachte. Damals waren sie noch an die hundert Mann, doch das ist eine andere Geschichte.
Allerdings ist Guillermo bisher noch nicht dazu gekommen, seine Glasmurmeln gegen Gold einzutauschen. Und um des Nachts nicht vor Angst und Verzweiflung verrückt zu werden, hat er irgendwann sein eigenartiges Spiel mit den Glasmurmeln entwickelt.
Nun hebt er alle Murmeln vom Boden auf und steckt sie in seinen Helm. Er schüttelt behutsam, so dass ein mahlendes Geräusch aus seinem Blechhelm ertönt. Dann steckt er seine Hand hinein, entnimmt dem Helm fünf Mal eine Handvoll Murmeln und sortiert sie zu fünf neuen Reihen vor ihm auf dem Boden. Sorgsam betrachtet er das so entstandene Muster aus rot, grün und gelb und runzelt die Stirn.
„KUERBISKERNENOEL?“, murmelt er.
Die anderen Konquistadoren werfen Guillermo einen kurzen, verständnislosen Blick zu. In der langen Zeit, seit sie zusammen unterwegs sind, haben sie sich an Rodolfos eigenartiges Spielchen mit den Murmeln gewöhnt, und normalerweise beachten sie es gar nicht mehr. Nur der Eingeborene scheint ganz fasziniert von Guillermos Treiben zu sein. Er schaut ihm dabei mit grossen Augen zu, wobei es ihn gar nicht zu stören scheint, dass seine Hände mit rauen Schnüren an einen dicken Ast gebunden sind.
Pater: „Es sind Tiere, Brüder und Schwestern, unschuldig und rein sind die
Lämmchen unseres Herrn, kein Wort Gottes je ihr Gehör berührt, kein Tropfen Weihwasser ihre Seele, und ich bin nicht würdig, oh Herr, dass ich eingeh’ unter seinem Dach, doch sprich nur ein Wort, und mein Seehund wird gesund.“
Der Pater schleckt sich die Finger ab und bekreuzigt sich.
Alfonso lässt einen Furz fahren.
Hernando: „Liegen schwer im Magen, die Lämmchen.“
Guillermo: „Seele? Du sagst, sie haben eine Seele, Hochwürden?“
Das Wort „Seele“ hat Guillermo aufgeschreckt. Er hört auf, mit seinen Glasperlen zu spielen und schaut beunruhigt hoch.
Pater: „Wir alle sind Kinder Gottes, mein Sohn, wie wir hier ehrfürchtig in seiner Herrlichkeit krepieren. Doch solange diese armselige Kreatur nicht das Wort unseres Herrn gelobt und die Weihe der heiligen Taufe erfährt, sei sie unserer Nahrungsaufnahme wohlgefällig.“
Guillermo: „Du bist doch ein Mann Gottes, Hochwürden. Du könntest ihn doch taufen.“
Der Pater hält mit seinem Essen inne und blickt Rodolfo an.
Pater: „Ja, das könnte ich.“
Guillermo: „Schau dir den Jungen doch mal an. Er würde bestimmt einen prima Christen abgeben. Und das bisschen Halleluja werden wir ihm schon beibringen.“
Guillermo steht auf und geht rüber zu Ruka, der an den Baum gefesselt ist.
Guillermo: „Na, mein Junge, jetzt sag mal schön brav: ‘Vater unser der du bist im Himmel’...“
Ruka schaut ihn verständnislos an.
Pater: „Hab’ aber kein Weihwasser dabei.“
Guillermo: „Dann mach doch welches. Hier, nimm das Wasser aus meiner Flasche und weihe es. Oder kannst du das auch nicht?“
Guillermo will dem Pater seine Feldflasche reichen.
Alfonso: „Gottverfluchte Scheisse! Muss erst der verfluchte Papst ins Wasser pissen, um es heilig zu machen?“
Alfonso grölt über seinen eigenen Scherz.
Pater: „In einer Vollmondnacht tu ein Silberstück ins Wasser und sprich die heiligen Worte des ehrwürdigen Bruders Bartholomäus, die da lauten...eh...“
Der Pater kratzt sich am Hinterkopf und versucht, sich an die heiligen Worte des ehrwürdigen Bruders Bartholomäus zu erinnern.
Guillermo: „Na sprich schon! Wie lauten die heiligen Worte des ehrwürdigen Bruders?“
Alfonso: „Wirst wohl noch wissen, wo Bartel den Most holt, ho, ho, ho?“
Pater: „Wohl wahr, mein reichlich mit Klugheit gesegneter Sohn! Doch zuerst brauche ich das Silberstück.“
Guillermo: „Silberstück...?“
Guillermo tastet seine Hosensäcke ab.
Guillermo: „Ich hab kein Silberstück. Hat vielleicht jemand von euch...?“
Hernando: „He, ich hab...“
Hernando zieht in einem kurzen Anfall von Begeisterung den silbernen Ring, den er in seinem Essen gefunden hat, aus der Tasche, will ihn hochheben, überlegt es sich mitten im Satz anders und denkt, dass es doch keine so gute Idee war. Verstohlen blickt er in die Runde, vergräbt den Ring in der Faust und steckt ihn wieder in die Hose.
Pater: „Liebe Brüder und Schwestern, wir wollen unserem Herrn danken für Speis und Trank, den er uns beschert hat, und ihn um Schutz und Gnade bitten auf unserem Weg zu El Dorado. Ich lege mich nieder.“
Der Pater gähnt und legt sich hin.
Alfonso: „Was gibt’s denn morgen zu essen?“
Alfonso rülpst und mustert den angebundenen Eingeborenen.
Hernando: „Heut Nacht ist gar kein Vollmond.“
Hernando blickt in den Himmel und versucht zwischen den Bäumen den Mond zu erkennen.
Guillermo: „Na dann geh’ ich mal scheissen.“
Guillermo verschwindet zwischen den Bäumen und kommt nie mehr zurück.
Eines Nachts, irgendwo anders im Urwald Amazoniens
Personen:
Eingeborene: Noha der Ängstliche
Ruka der Gerettete
Hlava der Schwule
Schamane der Weise
Konquistador: Guillermo de la Hierba der Zweifelnde
Auf einer kleinen Lichtung im Wald sitzen vier halbnackte Männer um ein Lagerfeuer.
Etwas abseits sitzt, halb bewusstlos, ein Konquistador, die Hände über dem Kopf an einen Baum gefesselt.
Noha: „Und du bist sicher, dass sie Götter sind, Schamane?“
Hlava: „Was sollen sie denn sonst sein. Oder hast du in diesem Wald jemals so etwas Komisches wie ihn gesehen, mit Haaren um den Mund, einem einzigen Ohr am Kopf und einem Schildkrötenpanzer um den Bauch? Liebe Güte, schaut ihn euch doch an, Schwestern! Er ist ja so was von blass im Gesicht!“
Ruka: „Ich habe gesehen, wie er irgendwelchen magischen Zauber machte, mit farbigen Perlen oder so.“
Schamane: „Zauber? Was für einen Zauber?“
Ruka: „Was weiss ich. Du bist doch der Schamane, nicht ich!“
Schamane: „Und hat er gewirkt, der Zauber?“
Ruka: „Keine Ahnung. Aber sie haben Koleno gegessen.“
Schamane: „Hmm.....Glücklicher Koleno. Jetzt ist er ein Teil von ihnen.“
Noha: „Ist Koleno jetzt auch ein Schildkröten-Gott?“
Schamane: „Oh ja, das ist er.“
Hlava: „Ach du meine Güte.“
Noha steht auf und ruft in den Nachthimmel.
Noha: „He Koleno, ich hab’s nicht so gemeint, als ich dich einen blöden Affen nannte, damals als wir uns gestritten haben. Bitte nimm es mir nicht
übel und verschone mich und meine Ahnen vor den Launen miesepetriger Dämonen.“
Nohas Geschrei weckt hoch oben im Wipfel des Baumes den Brüllaffen, der gerade wieder eingeschlafen ist, nachdem er aus einem bösen Traum aufgeschreckt war. Der Affe bringt sein Missbehagen über die Störung mit lautem Brüllen zum Ausdruck, bevor er wieder einzuschlafen versucht.
Noha: „Danke Koleno, danke...“
Noha verbeugt sich kurz und setzt sich wieder ans Feuer.
Ruka: „Es wird Zeit, dass wir nach Hause kommen. Ich habe meiner Frau versprochen, sie heute Nacht zu befriedigen.“
Schamane: „Das kann doch Curak für dich tun.“
Ruka: „Ach, der kann das nicht gut. Meine Frau ist nie zufrieden, wenn er bei ihr ist. Sie sagt, Curak hat einen grossen Gula.“
Hlava: „Oh ja, das ist wahr, Curak hat einen richtig grossen Gula.“
Der Schamane und Ruka blicken Hlava von der Seite an und nicken zustimmend.
Noha: „Was suchen diese blassen Götter hier unten? Warum bleiben sie nicht dort, wo sie hingehören?“
Schamane: „Die Götter haben aus Versehen das gelbe Metall vom Himmel fallen lassen. Nun holen sie es sich wieder zurück.“
Ruka: „So was Blödes! Das gelbe Metall ist doch völlig unnütz; viel zu weich, um daraus eine brauchbare Klinge zu machen ist, viel zu schwer, um es als Pfeilspitze zu gebrauchen. Es dient höchstens der Eitelkeit der Frauen, weil es so schön in der Sonne glänzt.“
Noha: „Sind die Götter eitel?“
Schamane: „Nun ja, ganz so unnütz ist es auch wieder nicht. Wenn man sich mit Kürbiskernennöl einreibt und dann seinen Körper mit feinem Staub des gelben Metalls bedeckt, dann hilft es ganz gut gegen Sonnenbrand.“
Hlava: „Die armen Götter! Haben sicher alle einen bösen Sonnenbrand dort oben, so nah bei der Sonne. Zuviel Sonne ist nicht gut für die Haut.“
Hlava betrachtet Guillermo.
Hlava: „Aber er ist doch so blass im Gesicht.“
Noha: „Und deswegen nehmen sie sich die ganze Mühe, um herzukommen? Wegen Sonnenbrand?“
Ruka: „Frag ihn doch.“
Noha: „Nö, ich trau mich nicht. Ich habe Angst vor ihm. Schamane, geh du und frag ihn.“
Der Schamane steht auf und geht rüber zu Guillermo, der an den Baum gefesselt ist.
Schamane: „Sag mal, wenn wir dir das gelbe Metall geben, wirst du dann wieder nach Hause gehen?“
Guillermo, noch immer benommen, versteht ihn nicht. Der Schamane dreht sich um zu Noha und schimpft.
Schamane: „Du hättest ihm nicht so stark auf den Kopf schlagen sollen. Jetzt ist er beleidigt und will nicht mit uns reden.“
Noha: „Er wollte aber in meinen Maniokgarten scheissen. So was gehört sich nicht, auch nicht für einen Gott!“
Ruka: „Er wollte dir doch bloss einen Gefallen tun und deinen Garten düngen. Und du Blödmann musst ihm deswegen gleich eins rüberbraten.“
Noha: „So ein Gott muss doch was aushalten können.“
Schamane: „Hört auf zu streiten! Das bringt uns jetzt auch nicht weiter. Wir müssen ihm das geben, weswegen er hergekommen ist. Dann geht er wieder seine Wege, und wir gehen nach Hause.“
Noha: „Ja! Dann gebe ich ein Maniokbier aus.“
Hlava: „Von deinem blöden Cassirí kriege ich immer Blähungen.“
Ruka: „Ich habe aber kein gelbes Metall da. Hat jemand von euch gelbes Metall?“
Noha: „Nö...“
Schamane: „Hmm...“
Hlava: „Mein Kettchen gebe ich aber nicht her.“
Schamane „Na komm schon! Zuhause mach ich dir ein neues.“
Hlava: „Ach, Gottchen...“
Hlava macht sich an seinem Fussgelenk zu schaffen und reicht dem Schamanen ein kleines Goldkettchen.
Noha: „Und was ist mit deiner Haarspange?“
Hlava: „Meine Haarspange? Ihr Barbaren wollt mir meine Haarspange wegnehmen? Wie sehe ich denn aus ohne Haarspange? Meine Frisur gerät ganz durcheinander!“
Noha: „Komm schon Liebling, es ist doch für eine gute Sache.“
Widerwillig greift sich Hlava in sein langes Haar, zieht daraus eine kleine, goldene Nadel hervor und reicht sie dem Schamanen.
Ruka: „Und dein Ring? Was ist mit deinem Ring?“
Hlava: „Aaaah.....Nicht meinen Ring! Tut mir das nicht an!“
Ruka: „Hab dich nicht so, mein Schatz! Ich mag dich auch ohne deinen Ring.“
Schluchzend greift sich Hlava in den Lendenschurz und macht sich zwischen seinen Beinen zu schaffen und zieht einen goldenen Ring hervor. Mit Tränen in den Augen reicht er ihn dem Schamanen.
Der Schamane legt das Gold in einen Tonkrug und schaut es sich mürrisch an.
Schamane: „Viel ist es nicht. Ich glaube kaum, dass es reichen wird, den Durst dieses Gottes zu stillen.“
Noha: „Und was sollen wir jetzt tun? Ihn mit nach Hause nehmen? Die erschrecken doch alle, wenn sie ihn sehen.“
Ruka: „Meiner Frau würde das gar nicht gefallen.“
Schamane: „Am besten, wir geben noch anderes Metall dazu, das rote und das weisse.“
Also tun sie zu dem wenigen Gold, das sie haben, noch ihre Becher aus Zinn und ihre kupfernen Äxte in den Krug. Dann stellen sie den Krug in die Glut des Feuers, nehmen ihre Blasrohre, durch die sie normalerweise vergiftete Pfeile blasen, um einen Brüllaffen oder einen Vogel von den Bäumen zu holen, und blasen nun damit Luft in die Glut unter dem Krug, so dass die Glut weiss und heiss wird und das Metall zu schmelzen beginnt und sich miteinander vermischt. Wenn das Metall glühend heiss und flüssig ist, nehmen sie den Krug vom Feuer und gehen damit zu Guillermo.
Schamane: „Ich weiss, dass es nicht ganz das ist, weswegen du hergekommen bist, Gott, und wir bitten dich deswegen um Verzeihung. Doch wir haben hier nicht mehr von diesem gelben Metall, welches du so begehrst. Ausserdem ist das gelbe Metall weich und schwer und dient höchstens dazu, die weibische Eitelkeit zu schüren.“
Er wirft einen kurzen, missbilligenden Blick auf Hlava. Hlava verzieht verächtlich das Gesicht und schmollt.
Schamane: „Doch dieses hier wird fest und hart, fast so hart wie dein Schildkrötenpanzer.
Er klopft Guillermo auf den eisernen Brustpanzer.
Schamane: „Daraus kannst du ein paar prima Pfeilspitzen machen. Oder auch einen schicken Kerzenständer, wenn es dir gefällt. Mag sein, dass es mit den Jahren etwas grünlich anläuft, doch das macht eigentlich gar nichts. Den Grünspan kannst du problemlos mit einem Lappen entfernen, den du vorher in Essig getränkt hast. Und dann schimmert es genauso hübsch wie vorher, fast so schön wie das gelbe Metall, das du hier suchst. So, und nun stille deinen Durst und geh in Frieden dahin, wo du hergekommen bist.“
Guillermo, noch immer benommen, fühlt, wie ihm jemand den Kopf nach hinten zieht und den Unterkiefer aufrisst. Er kann nur noch kurz aber heftig aufschreien, eher vor Überraschung als vor Schmerz, als er den brennenden Schmerz in der Kehle vernimmt, und danach kann er nicht mehr schreien. Guillermo geht wieder dorthin zurück, wo er hergekommen ist.
Sein Aufschrei weckt alle Affen in den Bäumen ringsherum, und ihre Empörung über die nächtliche Ruhestörung äussern sie durch lautes Gebrüll.
Das flüssige Metall fliess in seine Kehle, sprengt seinen Kehlkopf und zerfrisst die Stimmbänder, fliesst in seine Speiseröhre, durchbricht die Luftröhre, fliesst in seine Bronchien, rinnt an den Wänden seines Magens entlang und dingt bis in den dünnen Gang des Zwölffingerdarms, bevor es langsam erstarrt.
Jahrhunderte später fand man irgendwo tief im Urwald des Amazonas das Skelett eines Konquistadors. Als man den eisernen Brustpanzer vom Skelett entfernte, lag darunter zwischen den aufgebrochenen Rippen des Konquistadors, eine kleine bronzene Statue. Sie war bedeckt mit einer dicken Schicht von Grünspan.
Der Archäologe, der diese Entdeckung machte, hob die Statue behutsam aus dem aufgerissenen Brustkasten des Skelettes. Leicht erregt über seinen Fund trug er das Objekt zu seinem Zelt, wo sein Equipment aufbewahrt war. Er nahm einen Lappen, tränkte ihn mit Essig und fing an, damit sorgfältig die Schicht aus Grünspan von der Oberfläche zu entfernen, so dass sie bald glänzte und in der Abendsonne schimmerte.Als er damit fertig war, sah er sich die Statue genauer an.
Sie stellte einen Golfspieler dar, der gerade seinen Schläger hochhielt, um damit einen Schlag zu vollführen.
Dies verwirrte den Archäologen, denn wie ein spanischer Eroberer des 16. Jahrhunderts zu einer Golftrophäe aus Bronze kam, konnte er sich schlichtweg nicht erklären.
Fragend schaute er sich um. Dann sah er einen grossen Paranussbaum, der nahe seinem Zelt aus dem Waldboden herausragte. Im Baumstamm dieses Baumes waren die Worte eingeritzt:
TAMAL MOSSIANI WAS HERE
Kapitel
2
Filmriss
„Sind die
Sonnenblumen aus dem Garten verschwunden, entdeckt man das kleine Radieschen“
(Weisheit
eines chinesischen Gärtners)
Vor langer Zeit gab es
einmal eine Zeit, als niemand Zeit hatte, weil jeder seine Zeit dazu brauchte,
Geld zu verdienen.
„Zeit ist Geld“, so sagten die Leute damals,
und es galt geradezu als ein moralisches Verbrechen, seine Zeit zu vergeuden.
Als reine Zeitverschwendung galten damals Tätigkeiten, die kein Geld
einbrachten, Tätigkeiten wie zum Beispiel in der Wiese zu liegen und den Wolken
beim Vorbeiziehen zuzusehen, oder an einem windigen Tag an einer Mülldeponie
vorüberfliegende Plastiksäcke zu bespringen, oder im Stadtpark von einer Brücke
aus auf die Köpfe von Schwänen zu spucken, oder einfach nur sinnlos vor sich
hinzuträumen.
All solche Dinge konnte
sich ein normaler Mensch damals nicht leisten, denn er brauchte seine Zeit
dazu, um Geld zu verdienen. Die einzigen Menschen, die es sich hin und wieder
erlauben konnten, ihre Zeit zu verschwenden und dem Müssiggang zu frönen, waren
kleine Kinder, Rentner und jung verliebte Paare.
„Du stiehlst mir meine Zeit“, war damals ein
gängiger Ausdruck und eine ziemlich wüste Beleidigung für einen Menschen, den
man gemeinhin als Langweiler bezeichnete. Der Ausdruck „Langweiler“ wiederum
kann nicht eindeutig klassifiziert werden, denn ein Mensch, dessen Weile lang
ist, müsste in einer Welt, in der Zeit Geld ist, ein reicher Mann sein. Sollte
sich „Langweiler“ hingegen auf eine Person beziehen, welche die Zeit anderer
Leute zu verlängern vermag, so müsste dieser Ausdruck eher ein Kompliment bedeuten
anstatt einer wüsten Beleidigung.
Zu jener Zeit, als
niemand Zeit hatte, weil jeder seine Zeit dazu brauchte, Geld zu verdienen,
lebte ein Mann, der es fertiggebracht hatte herauszufinden, wie man die Zeit
anderer Leute stiehlt.
Vladimir Sikorsky war ein
äusserst unauffälliger Mensch. Sollte man ihn beschreiben, so wäre das Einzige,
das man mit Sicherheit über ihn sagen könnte, dass er über absolut keine
besonderen Merkmale verfügte. Alles Äussere an ihm schien absolut gewöhnlich,
beinahe augenfällig durchschnittlich, gar verdächtig mittelmässig zu sein.
Sikorskys äussere Erscheinung war die wahrhaftige Verkörperung des
statistischen Mittelwertes. Das einzig Auffallende an ihm war, dass er absolut
unauffällig war.
Er war mittleren Alters,
von mittlerer Statur und war weder korpulent noch ausgesprochen schlank. Sein
Haar war weder dicht noch licht, weder hell noch dunkel, und er trug es
mittellang. Seine dezent blauen Augen waren leicht kurzsichtig, und er trug eine
schlichte Hornbrille in diskretem Braun.
Er hatte keine besonderen
Angewohnheiten, trank nicht und rauchte nicht, ausser mal für kurze Zeit, als
es Mode war, Pfeife zu rauchen, da rauchte er Pfeife, und als es en vogue war,
Schnurrbart zu trage, liess er sich einen aparten Oberlippenbart wachsen.
Er fuhr einen grauen Opel
Astra, als es das meistverkaufte Auto der Saison war. Als er dann heiratete und
die Kinder zur Welt kamen, kaufte er einen Renault Magellan, da es zu jener
Zeit das beliebteste Familienfahrzeug war. Er trug mit Vorliebe graue Anzüge,
die sich einzig in ihren Graustufen leicht unterschieden, war verheiratet mit
einer unscheinbaren Frau und hatte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen.
Beide waren ganz normal.
Die Sikorskys bewohnten
ein kleines, bescheidenes Haus in einer schlichten Reihensiedlung am Rande
eines mittelgrossen Städtchens, wo Vladimir am Gymnasium als Biologielehrer
tätig war.
Barbara, Vladimirs Frau,
war nicht berufstätig. Früher war sie Sprechstundenhilfe in einer
Zahnarztpraxis. Dort lernten sie sich kennen. Nachdem sie geheiratet hatten und
die Kinder zur Welt kamen, gab sie ihre Arbeit auf und begnügte sich damit,
sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern. Das wiederum gab Vladimir den
Freiraum, den seine nebenberufliche Tätigkeit beanspruchte.
Ihren Nachbarn war
anfangs nichts Aussergewöhnliches aufgefallen. Die Sikorskys galten als
freundliche aber unaufdringliche Leute, und wären sie eines Tages einfach
wortlos weggezogen, so wäre es wahrscheinlich kaum jemandem aufgefallen.
„Haben Sie gehört, die Sikorskys sind
weggezogen!“, hätte Frau Neugebauer von nebenan zu Frau Hofstetter gesagt.
„Ach so? Wie schade, die waren ja so nett!“,
hätte Frau Hofstetter geantwortet, und damit wäre das Thema auch schon
abgehackt, und Frau Neugebauer und Frau Hofstetter würden sich wieder über die
neuste Bademode unterhalten.
Nicht etwa, dass die
Sikorskys Einzelgänger waren, die sich vor ihrer Umwelt abschotteten. Sie
hatten durchaus soziale Kontakte, plauderten mit den Nachbarn über das Wetter,
gingen hin und wieder ins Theater oder ins Kino und luden manchmal sogar
Freunde zu sich zum Abendessen ein, wo sie gewöhnlich ein Fondue servierten,
das absolut gewöhnlich war.
Die Sikorskys allerdings
wurden so gut wie nirgendwohin eingeladen, und die Leute, die sie als ihre
Freunde bezeichneten, meldeten sich kaum jemals bei ihnen. Die Sikorskys
störten sich nicht daran. Im Gegenteil; es erschien ihnen ganz normal.
Barbara besuchte einmal
die Woche einen Kurs für modernen Jazz-Tanz. Ausserdem war sie im Mütterverein
engagiert und backte manchmal Kuchen oder Kekse für die jährlich stattfindende
Tombola, die Kinder gingen ganz normal zur Schule und fielen dort nicht überhaupt
nicht auf, und Vladimir war Mitglied des kantonalen Vereins der Pilzfreunde.
Eigentlich war er dort
beigetreten, um sich besser in seiner Umgebung zu integrieren und nicht als
Sonderling aufzufallen, denn als Gymnasiallehrer hatte er gewisse
gesellschaftliche Verpflichtungen, denen er sich nicht entziehen konnte. Zwar
interessierten ihn Pilze nicht besonders, doch Vladimir hatte sich vorgestellt,
Pilzliebhaber seien einfach gestrickte Leute, unter denen er kaum auffallen
würde. So war es auch. Allerdings wurde er eines Tages zum Präsidenten des
Vereins für Pilzfreunde gewählt; wahrscheinlich gerade deshalb, weil er so
unauffällig war.
Die Sikorskys waren eine
ganz gewöhnliche Familie in einem ganz gewöhnlichen Vorort einer ganz gewöhnlichen
Kleinstadt, und nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas Ungewöhnliches in
dieser Familie stattfinden könnte. Wie ein Wassertropfen auf dem Lotusblatt
entwichen die Sikorskys jeglicher Erinnerung ihrer Umwelt.
Vladimir hatte
Naturwissenschaften studiert. Er war eigentlich promovierter
Physiker. Die Stelle als
Biologielehrer am Gymnasium hatte er nur deshalb angenommen, weil ihm dies als
aussichtsreich ruhiger Posten erschien, wo seine Arbeit überhaupt nicht ins
Gewicht fiel, keine besonderen Aktivitäten erforderte, keine hohen Wellen schlagen
würde und somit völlig unauffällig war.
Unter seinen
Arbeitskollegen galt er als ziemlich farblos und fad, doch ansonsten sehr
korrekt. Ebenso dachten seine Schüler.
Diese Anstellung als
Lehrer am Gymnasium bot ihm zusätzlich eine Menge Freizeit, und jeden freien
Tag und nahezu die gesamten Schulferien nutzte er für sein ungewöhnliches
Steckenpferd.
Vladimir Sikorsky
erforschte das Wesen der Zeit. Die Zeitforschung war seine grosse Leidenschaft,
und niemand, nicht einmal seine Frau, ahnte, welche Ausmasse seine Besessenheit
von der Zeit eines Tages annehmen würde.
Anfangs war sein
Interesse für die Zeit nur so was wie ein harmloses Hirngespinst. Er
beschäftigte sich mit den Werken grosser Physiker wie Einstein, Heisenberg oder
Stephen Hawking, die sich im Wesentlichen mit der Wesensart der Zeit und deren
Verhältnis zu Raum und Materie auseinandersetzten.
Seine Forschung war
damals rein theoretischer Art. Er stellte Berechnungen an, um die
Beschaffenheit der Zeit zu ergründen, verglich seine Ergebnisse mit den
Literaturangaben und leitete aus den Ergebnissen Formeln her, die das
Verhältnis von Zeit, Raum und Materie beschrieben.
Auch hatte er es nicht
versäumt, sich auch mit Publikationen von unbedeutenden Spinnern auf dem Gebiet
der Zeitforschung auseinander zu setzen, die in trivialen,
pseudowissenschaftlichen Magazinen veröffentlicht wurden. In sozialen Medien
konnte er erstaunlich gut Fakenews von relevanten Publikationen unterscheiden, doch
auch das Lesen profaner Science-Fiction Literatur brachte ihn zu so manch
erstaunlichen Erkenntnissen.
Eines Tages, als sich
Familie Sikorsky zwecks Wanderferien in den österreichischen Alpen aufhielt,
machte Vladimir seine entscheidende Entdeckung. In einem Innsbrucker
Antiquariat stiess er zufällig auf die Manuskripte des österreichischen
Physikprofessors Erwin Schrödinger, welche dieser in seinen letzten zwei
Lebensjahren verfasst hatte, nachdem er sich, nicht zuletzt aus Enttäuschung
darüber, dass ein anderer Physiker namens Albert Einstein fast all seinen
Erkenntnissen zuvorgekommen war, in die Abgeschiedenheit der Tiroler Bergwelt
zurückgezogen hatte.
Diese unbekannten
Manuskripte schlossen einige Lücken, die Sikorskys Wissen über die
Beschaffenheit der Zeit aufwies. Sie gaben seiner Forschung die entscheidenden
Impulse. Erst danach wurde es ihm möglich, vom rein mathematisch-theoretischen
Studium der Zeit zum experimentellen Schaffen überzugehen.
Seine beste Quelle der
Inspiration allerdings waren eben diese billigen Magazine der
Pseudowissenschaften mit Veröffentlichungen von Leuten, die in der seriösen
Welt der Wissenschaft kaum Beachtung fanden. Bestenfalls galten sie als
verschrobene Idioten, über die man mitleidig lächelte, welche aber kein
anständiger Wissenschaftler ernst nehmen konnte.
Zu
dieser Sorte von Spinnern zählte ein seltsamer Autor namens Tamal «die Drohne»
Mossiani. Die Vielzahl seiner Publikationen las sich wie schmutzige
Schundromane mit einem Hang zu vollbusigen Blondinen in verzwickten
Situationen, und eigentlich waren sich all seine Geschichten ziemlich ähnlich.
Meist begannen sie mit einem unerklärlichen, kosmischen Blitz, der die gesamte
männliche Erdbevölkerung unfruchtbar machte, bis auf den Helden der Geschichte,
von dem Mossiani in der Ich-Form schrieb, und der dann im weiteren Verlauf der
Geschichte die Aufgabe hatte, den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Dies
bescherte dem Autor seinen eigentümlichen Beinamen.
Zwischen solchen
schlüpfrigen Episoden jedoch beschrieb Tamal «die Drohne» Mossiani so manches
Mal erstaunliche Details über die Beschaffenheit der Zeit, so dass sich
Sikorsky manchmal fragte, ob nicht Mossiani schon lange vor ihm diese Erfindung
gemacht haben könnte, mit welcher man anderen Leuten ihre Zeit stehlen kann.
Ganz abstrakt und sehr
vereinfacht dargestellt kann man sich die Zeit eines Lebewesens vorstellen wie
ein langes, schmales Band aus Papier. Der Anfang des Papierbandes stellt die
Geburt der Kreatur dar, das Ende des Bandes ist dessen Tod. Und die Gegenwart
ist ein schmaler, senkrechter Balken, welcher an diesem Band entlangläuft und
ihn abtastet wie der Tonkopf einer Tonbandmaschine.
Die Geschwindigkeit des
Balkens ist nicht immer regelmässig. Deshalb erscheinen uns manche Momente
endlos lang, und andere scheinen uns wie im Flug zu vergehen. Tendenziell aber
nimmt das Tempo der Gegenwart stetig ab, so dass die Kindheit und Jugend uns
sehr schnell entschwindet, in alten Jahren uns aber die Zeit richtiggehend
unter den Füssen kleben zu bleiben scheint.
Dies bezieht sich lediglich
auf das subjektive Zeitempfinden, und jeder Mensch empfindet die Dauer eines
Ereignisses ganz anders. Doch spätestens seit Einstein seine
Relativitätstheorien aufstellte, wissen wir, dass die Zeit auch objektiv von
bestimmten Faktoren wie Materie und Geschwindigkeit abhängig ist.
So verläuft
beispielsweise die Zeit bewegter Objekte langsamer als die Zeit ruhender
Objekte, und bewegt sich ein Objekt gar mit Lichtgeschwindigkeit, so bleibt
dessen Zeit beinahe ganz stehen.
Nimmt man andrerseits
eine äusserst präzise Uhr und hebt mit ihr von der Erde ab, so dass sie für
eine Weile weder der Erdanziehung noch der Gravitation anderer grosser
Materiebrocken ausgesetzt ist und kommt dann mit der Uhr wieder zur Erde
zurück, vergleicht dann die Uhr mit einer andern äusserst präzisen Uhr, die
währenddessen auf der Erde verblieben ist, so wird man feststellen, dass die
Uhr, die draussen im Weltraum war, scheinbar etwas vorgeht.
Die Sekunde ist durchaus
keine absolute Zeiteinheit. Ganz egal, ob man sie mittels präziserster
Atomuhren definiert, die auf der Strahlungsschwingung eines zerfallenden
Cäsium-133-Isotopes beruht, ob man die Dauer der Erdrotation um die Sonne zu
Hilfe nimmt, um die exakte Länge eines Erdenjahres zu ergründen, oder ob man
die Zeit misst, die das Licht im Vakuum über eine bestimmte Strecke zurücklegt.
Die Sekunde ist eine ziemlich elastische Masseinheit, ein dehn-, streck- und
beugbares Ding aus Gummi, und daran werden auch die genausten Messmethoden
nichts ändern.
Eigentlich hat dies
bereits vor Tausenden von Jahren ein Grieche namens Pythagoras herausgefunden,
der sich unter anderem mit Musik beschäftigte. Er stellte fest, dass wenn er
sich von einem bestimmten Grundton aus zwölf Mal mit einer reinen Quinte des jeweils
neu entstandenen Tones vorwärts bewegt, er dann nicht wieder exakt auf den
ursprünglichen Grundton zurück kommt, wie es in einem Quintenzirkel eigentlich
sein müsste, sondern diesen Grundton um den Faktor 1.0136 verfehlt.
Diesen Faktor nennt man
das Pyhtagoräische Komma, und bis heute macht er Klavierstimmern, Orgelbauern
und Musikern zu schaffen, obschon man bereits im Frühbarock das Pythagoräische
Komma mittels wohltemperierter Stimmung zu überlisten versuchte.
Ist man sich jedoch
bewusst, dass in der Akustik der Ton mittels der Masseinheit Hertz definiert
wird und diese Masseinheit in Anzahl Schwingungen pro Sekunde ausgedrückt wird,
so könnte man daraus schliessen, dass diese Anomalie auf die Elastizität der Zeiteinheit
zurückzuführen sein könnte.
Dieses erstaunliche
Phänomen von der Elastizität der Zeit wird von der Wissenschaft Zeit-Dilatation
genannt. Sie macht es prinzipiell möglich, die Zeit zu manipulieren. Und genau
das machte sich Vladimir Sikorsky zunutze, als er seinen Apparat baute, mit dem
er die Zeit anderer Leute zu stehlen vermochte.
Doch kehren wir wieder
zurück zu unserer abstrakten Vorstellung von der Zeit als mehr oder weniger
langes Band aus Papier, und statt Papier stellen wir uns nun besser ein Band
aus Gummi vor, um der elastischen Eigenschaften der Zeit gerecht zu werden. Dieses
Modell kann uns nun auch das subjektive Zeitempfinden eines Individuums besser
veranschaulichen.
Wir hatten uns die
Gegenwart als Tonkopf vorgestellt, der in seinem steten Gang das Zeitbandes
eines Individuums abtastet, von der Geburt des Individuums bis zu seinem Tod.
Übt nun der Tonkopf
während der Abtastung einen gewissen Druck auf das Band aus, so dehnt sich das
Gummiband unter diesem Widerstand hinter dem Tonkopf etwas in die Länge,
während vor dem Tonkopf sich das Band leicht zusammenzieht. Für einen Moment
erfolgt nun die Abtastung des Tonkopfs langsamer, und zwar so lange, bis sich
der Zustand zwischen Kontraktion und Expansion des Bandes stabilisiert hat.
Verringert sich der Druck des Tonkopfs wieder und somit auch der Widerstand, so
kehrt das Band in seinen ursprünglichen Zustand zurück. In dieser Phase
verläuft der Tonkopf schneller über das Band, bis sich auch dieser Zustand des
Bandes stabilisiert hat.
Vergessen wir nicht: Der
Tonkopf ist die Gegenwart, hinter dem Tonkopf ist die Vergangenheit, und davor
liegt die Zukunft. Während Phasen höheren Widerstandes zwischen Band und
Tonkopf verläuft die Gegenwart also langsamer als während Phasen kleineren
Widerstandes. Dass die Zukunft und die Vergangenheit bei diesem Vorgang jeweils
komprimiert respektiv expandiert werden, ist eine andere Geschichte. Auf die
Gegenwart hat dies bisher keinen Einfluss, da diese Orte von hier aus kaum
zugänglich sind.
Nicht nur Menschen, auch
Tiere und Pflanzen, ja gar alle Lebensformen verfügen über ähnliche Zeitbänder.
Der wesentliche Unterschied von einer Spezies zur andern besteht hauptsächlich
in der Geschwindigkeit der Gegenwartsabtastung.
Als Sikorsky seine ersten
praktischen Experimente mit der Zeit anstellte und sich in einem Selbstversuch
ein Stück des Zeitbandes einer Schildkröte injizierte, war er erstaunt, wie
rasend schnell sich alles in seiner Umgebung bewegte. Er konnte vom blossen
Auge die Bewegung des Stundenzeigers seiner Armbanduhr wahrnehmen, während der
Minutenzeiger seine Kreise zog, als würde er die Sekunden anzeigen.
Der Schatten der Sonne,
die durchs Fenster in sein Arbeitszimmer schien, wanderte über den Fussboden,
und Vladimir blickte gebannt nach draussen zum blauen Himmel empor, an dem
Wolkenfetzen vorüber sausten.
„Was hat denn Fritz hier zu suchen?“, hörte er
jemanden hinter seinem Rücken sagen.
Zuerst erkannte er die
Stimme nicht. Sie war unnatürlich hoch, schrill und sprach sehr schnell.
Fritz war der Name der
Schildkröte, und die Schildkröte gehörte Sebastian, dem kleinen Sohn der
Sikorskys, und eigentlich gehörte Fritz ins Terrarium im Kinderzimmer. Doch nun
lag Fritz auf Vladimirs Arbeitstisch und kaute gelangweilt an einem Salatblatt.
Vladimir fiel es
sichtlich schwer, sich umzudrehen und dem Gang seiner Frau zu folgen, welche
eigentlich nur seinen Papierkorb leeren wollte.
Vladimir wollte ihr etwas
entgegnen und machte den Mund auf. Doch aus seinem Mund kam nur ein tiefes
Dröhnen.
Dass Sikorskys Gattin
beim Anblick ihres Mannes in diesem Zustand mächtig erschrak und im ersten
Moment befürchtete, ihr Mann hätte einen Schlaganfall erlitten, hat ihm im
Nachhinein ziemlich amüsiert.
Noch langsamer als bei
Schildkröten verläuft die Gegenwartsabtastung bei Schnecken, Regenwürmern und
pflanzlichen Lebensformen, was einem zu der irrigen Edithhme führen könnte,
dass die Geschwindigkeit der Gegenwart im Zusammenhang stehen könnte mit der
Höhe der Lebensform einer Spezies.
Dies ist aber nicht der
Fall. So ist beispielsweise die Abtastfrequenz von Spatzen und Stubenfliegen
wesentlich höher als die des Menschen, und als Sikorsky einen Selbstversuch mit
dem Zeitband einer Spitzmaus anstellte, konnte er in derselben Zeit, wie seine
Frau ein Glas mit Wasser füllte, eine ganze Packung mit Keksen aufessen.
Sikorskys Erfindung
beruhte darauf, dass er imstande war, das Zeitband eines Lebewesens mit einer
Art Schere zu durchschneiden. Tat er dies gleichzeitig an zwei Stellen, so
konnte er aus diesem Zeitband ein kleines Segment herauslösen und es in einem
Einmachglas konservieren. Das zerschnittene, ursprüngliche Zeitband des
bestohlenen Individuums fügte sich nach diesem Eingriff wieder von selbst zu
einem Ganzen zusammen.
Das so seiner Zeit
beraubte Versuchsobjekt bemerkte nichts von dieser Prozedur, denn die Segmente,
die Sikorsky herausschnitt, waren zumindest anfangs seiner Feldversuche
ziemlich klein und entsprachen der Grössenordnung von ungefähr 13 Sekunden. Im
schlimmsten Fall kriegte das Opfer den Eindruck, kurz eingenickt zu sein.
Sikorskys Zeitschere war
ein unförmiger Apparat, in dessen Innerem kleine Pendel, Kreisel und Spiegel
rotierten und dauernd irgendwelche merkwürdigen Geräusche produzierten. An
diesem Apparat war etwas wie ein Rüssel angebracht, der in eine Art Saugstutzen
mündete. Das Ding erinnerte etwas an einen bizarren Staubsauger.
Natürlich handelt es sich
bei dem Zeitsegment, das Sikorsky mit seiner Zeitschere einfing, in
Wirklichkeit weder um ein Stück Papier noch um ein Band aus Gummi. Es hat
überhaupt keine konkrete Form, keine feste Konsistenz und keine deutlichen
Umrisse. Wenn man es so eingesperrt im Einmachglas betrachtet, dann kommt es
einem eher vor, als würde man an einem heissen Sommernachmittag über eine
asphaltierte Landstrasse hinweg den Horizont betrachten, wo die Luft von der
Hitze erregt leicht flimmert. So ein ähnliches Flimmern kann man auch in diesem
Einmachglas erkennen, wenn man ganz deutlich hinschaut.
Sikorskys erste
Selbstversuche beruhten auf dem Prinzip, das gestohlene Zeitsegment über das
eigene Zeitband zu legen und anstatt der eigenen Gegenwart innerhalb dieser 13
Sekunden die Gegenwart des Bestohlenen zu erleben. Dies lief natürlich synchron
zur allgemein ablaufenden Gegenwart ab, denn die Gegenwartsabtastung verlief
während dieser 13 Sekunden nicht über das eigene Band, sondern über dasjenige
des Bestohlenen, welches das eigene Band überdeckte. Dabei gingen die 13
Sekunden der eigenen Gegenwart verloren.
Später, nachdem es
Sikorsky auch gelungen war, die Grösse der gestohlenen Zeitsegmente erheblich
zu steigern, war er auch in der Lage, das Fremdsegment nicht wie bis anhin über
das eigene Zeitband zu legen, sondern es darin einzufügen. Am einfachsten kann
man sich das so vorstellen, dass man mit einer Schere ein Stück des Tonbandes
durchschneidet und an den Schnittstellen ein kleines Stück eines anderen Bandes
hinzu klebt. Man verlängert also das ursprüngliche Band um die Länge des neuen
Stückes. Und somit kann man, während die Zeit für die Umgebung scheinbar
stillsteht, bis zu sieben Minuten der Zeit eines anderen Individuums erleben.
Eigentlich kam Sikorsky
notgedrungen auf diesen Einfall mit dem Einbetten des Fremdsegments. Denn seit
seinen letzten Selbstversuchen mit längeren Zeitbändern, die er im zoologischen
Garten, einem Kindergarten und in einer Synagoge gestohlen hatte, machte seine
Frau merkwürdige Bemerkungen über sein eigenartiges Verhalten.
„Manchmal machst du mir richtig Angst, Vladi.
Ist etwas nicht in Ordnung mit dir?“
Es war schwierig, sie
nach solchen Erlebnissen zu beruhigen, und einmal, als sie ihn dabei ertappte,
wie er gerade mit der gestohlenen Zeit eines Pavians experimentierte, jagte er
ihr eine Heidenangst ein. Danach musste er ihr versprechen, gleich am nächsten
Tag einen Arzt aufzusuchen.
Doch seit seiner
Entdeckung, dass man fremde Zeitsegmente nicht über das eigene Zeitband legen
muss, sondern sie darin einfügen kann, hatte er überhaupt keine Probleme mehr.
„Magst du einen Kaffee, Vladi?“, fragte Barbara
durch die halboffene Tür seines Arbeitszimmers.
Vladimir stand auf einem Hügel und hielt einen Stock
in der Hand. Am Stock aufgerollt war eine Schnur, und an dieser Schnur schwebte
hoch oben im Himmel ein roter Papierdrache. Es wehte ein milder Wind. Vladimir
war ein neunjähriger Junge in kurzen Hosen, T-Shirt und Baseball-Mütze. In
seinem Kopf war pure Unschuld, Unwissenheit und Glückseligkeit in seinem
Herzen. Er sah zum Himmel empor, sah die Schäfchenwolken vorbeisegeln, und
davor machte sein roter Papierdrachen schwankende Bewegungen nach links und rechts
und wedelte mit seinem Schwanz aus bunten Papierbändern. Plötzlich kam ein
kurzer, kräftiger Windstoss, und der Drachen zog heftig an der Schnur und riss
Vladimir den Stock mit der Schnur aus der Hand. Der Drache am Himmel vollführte
eine Drehung um sich selbst, stieg einen Moment lang noch höher in den Himmel,
dann neigte er sich plötzlich zur Seite, und nach einem rasenden Sturzflug
krachte er ins Geäst einer mächtigen Eiche und zerschellte. Am Stamm der Eiche
waren die Worte eingeritzt:
TAMAL MOSSIANI WAS HERE
„Ja gern, mein Schatz,“ antwortete Vladimir.
„Und da ist noch der Kuchen von gestern. Soll
ich dir ein Stück davon abschneiden?“
Kapitel 3
Golf
„Wenn wir es nicht tun, dann tut es jemand
anders.“
(viertes Gebot der freien Marktwirtschaft)
Die Gesetze der
Gravitation und der Dynamik fester Körper schienen für Paolos Bälle keine
Gültigkeit zu haben. Ganz egal, wie schlecht er den Ball traf, ganz egal, ob er
den Ball direkt mit dem Eisen traf, oder ob er eigentlich eher in die darunter
liegende Grasmatte hieb; es schien fast so, als ob der Ball von Gott persönlich
geführt worden wäre. Der Ball sauste hoch, zischte durch die Luft und landete
auf dem Grün unmittelbar neben der Fahne, bereit zum Einlochen.
Paolo waren bereits 7
Birdies gelungen und ganze 4 Eagles, bei denen er aus einer Distanz von über 50
Metern den Ball direkt ins Loch beförderte. Bei Loch neun, immerhin ein
Par-3-Loch von 200 Metern, gelang ihm gar ein Ass; vom Abschlag weg beförderte
Paolo den Ball mit einem einzigen Schlag direkt ins Loch.
Solche Glücksschüsse
kommen in diesem Sport hin und wieder vor, und jeder Golfspieler verfügt über
eine gewisse Anzahl mehr oder weniger glaubwürdiger Anekdoten darüber, wie er
von einer hoffnungslosen Position aus dem Ball direkt einlochte, welche er bei
passender Gelegenheit süffisant von sich gibt.
Doch in ein und
demselben Spiel gleich fünf solcher Treffer zu erzielen, das war schon sehr
ungewöhnlich und grenzte geradezu an ein Wunder.
Fernando, Paolos Golfjunge,
bekreuzigte sich jedes Mal nach solch einem Schlag und murmelte ein Gebet. Seit
über 30 Jahren war Fernando als Caddie auf dem Clubgelände von Santa Maria del
Mar tätig. In diesen 30 Jahren hatte er die Taschen mit den Schlägern der
besten Profi-Golfer aus aller Welt geschleppt. Er kannte den Kurs in und
auswendig und konnte den Spielern so manchen nützlichen Rat geben, was die
Bodenbeschaffenheit, die Windverhältnisse oder den Neigungswinkel des Geländes
betraf. Doch so etwas, wie Paolos Bälle, hatte er noch nicht erlebt.
Von Loch zu Loch
scharten sich mehr Leute in den Zuschauerzonen um Paolo und seinen Caddie, und
seit Loch 13, als Paolo einen unglaublichen Eagle aus dem Pinienwäldchen heraus
zauberte, liessen ihn die Reporter und die Kamerateams nicht mehr aus den Augen.
Bei Loch 17 lag Paolo
mit einem Zwischenergebnis von 13 unter Par deutlich in Führung, drei Punkte
vor dem amtierenden Champion Brian O’Hara und dem Weltranglisten-Zweiten
Herbert Shorter. Es lag nur noch ein letzter Kurs vor
ihm, und dann würde er
das Turnier als Sieger beenden.
Eigentlich sollte Paolo
beim diesjährigen Turnier von Santa Maria del Mar gar nicht gesetzt sein. Es
spielten nur die besten Profi-Golfer der Welt um die begehrte Trophäe und das
damit verbundene Preisgeld, und Paolos Name war in der Weltrangliste des Golfsports
überhaupt nicht aufgeführt. Immerhin hatte Paolo ein Handicap von 11, was für
einen Amateur recht ordentlich ist, ihn aber noch lange nicht legitimiert, an
einem Profi-Turnier teilzunehmen.
Doch der Club gehörte
Roberto Escobar, einem der reichsten Männer des Landes. Das war Paolos Vater.
Und so konnte es Paolo einrichten, dass er am diesjährigen Turnier teilnehmen
durfte.
Das Preisgeld für den
Sieger war auf fünf Millionen Dollar angesetzt. Und das war genau die Summe,
die Paolo dringend brauchte, um seine Schulden zu begleichen.
Mit seinen heimlichen
Geschäften hatte er sich ziemlich verspekuliert, und nun sass er böse in der
Tinte. Spätestens bis morgen musste er die Summe auftreiben, sonst drohten ihm
ernsthafte Schwierigkeiten.
Natürlich hätte er
seinen Vater um das Geld bitten können. Fünf Millionen Dollar mehr oder weniger
hätten den alten Herrn überhaupt nicht gekratzt. Doch dann hätte Paolo seinem
Vater verraten müssen, wozu er das Geld brauchte. Und würde sein alter Herr
erfahren, dass Paolo hinter seinem Rücken Geschäfte mit Emilio Reyna, dem
Weihnachtsmann machte, dann wäre das, was Roberto Escobar mit seinem Sohn
machen würde, nicht viel angenehmer als das, was der Weihnachtsmann ihm
angedroht hatte, falls er ihm das Geld nicht bis morgen zurückzahlen würde.
Paolos Mutter war früh
verstorben. Er konnte sich kaum an sie erinnern. Der Vater war zu sehr mit
seinen Geschäften beschäftigt, um wieder zu heiraten. Dennoch war er stets
bemüht, seinen Kindern eine gute Erziehung anzueignen und sie gleichzeitig
weitgehend von seinen Geschäften fernzuhalten. So ist Paolo gemeinsam mit
seinen vier Brüdern und drei Schwestern wohlbehütet aufgewachsen in einer
heilen Welt zwischen Kindermädchen, Swimmingpool und Hauslehrern.
Die Villa, welche die
Familie bewohnte, war von der Aussenwelt hermetisch abgeschirmt und wurde Tag
und Nacht von einer Privatarmee bewacht. Womit sich seine Familie solch einen
luxuriösen Lebensstandard inmitten einer armseligen Welt erwirtschaftete, davon
hatte Paolo lange Zeit keinen blassen Schimmer.
Mit 16 Jahren schickte
man ihn an eine noble Privatschule in die Schweiz. Paolos Vater sah es gern,
wenn sich jeweils eins seiner Kinder in der Nähe seines Vermögens aufhielt. Vor
ihm waren schon seine zwei älteren Brüder dort gewesen, und nach ihm folgten
auch seine jüngeren Geschwister.
In der Schweiz erhielt
Paolo eine gründliche Ausbildung. Dort entdeckte er aber auch seine
Leidenschaft für italienische Sportwagen, das weiblichen Geschlecht und für den
Golfsport, dem er mit Hingabe frönte.
Als er mit 21 Jahren
zurückkam, wollte ihn sein Vater nach Amerika schicken, wo er an einer
renommierten Universität Jura studierten sollte. Doch dem hatte sich Paolo
erfolgreich widersetzt. Er drängte darauf, endlich in die Geschäfte seines
Vaters eingeweiht zu werden. Vergeblich.
Also machte er
stattdessen mit seinem roten Ferrari die Strassen von Santa Maria und Umgebung
unsicher, lungerte mit seinen nichtsnutzigen Freunden in zwielichtigen Kneipen
herum und widmete sich dem Golfsport.
Sein Lebenswandel
missfiel dem Vater. In der Hoffnung, Paolos jugendlichen Leichtsinn etwas
abzukühlen, drängte er ihn zur Heirat.
Paolo hatte
diesbezüglich keine grossen Ambitionen. Auch hatte er keine festen Bindungen zu
Mädchen seines Alters. Seine Beziehungen zu Frauen beschränkten sich auf
kurzfristige Kontakte in Bars und Bordellen. Trotzdem liess er seinen Vater
gewähren.
Seine junge Angetraute,
ein hübsches, jedoch stets traurig wirkendes, grünäugiges Mädchen namens
Esmeralda, wurde ihm von seinem Vater ausgewählt. Die beiden hatten sich vorher
noch nie gesehen. Im Gegensatz zu Paolo kam Esmeralda aus äusserst ärmlichen
Verhältnissen. Sie war Waise und war auf der Strasse aufgewachsen. Eines ihrer
grünen Augen war aus Glas, und ausserdem hatte sie eine lange Narbe auf der
linken Seite ihres Bauches, wo ihr eine Niere fehlte. Paolo hatte keine Ahnung,
warum sein Vater ausgerechnet sie ausgewählt hatte. Doch war ihm das auch egal.
Die Heirat änderte nicht
viel an Paolos Lebenswandel. Obwohl Esmeralda zwei Kinder von Paolo zur Welt
brachte, ging er weiterhin seiner gelangweilten, ungezwungenen Lebensart nach.
Aus purer Langeweile,
jedoch auch aus Trotz, weil sein Vater ihm immer noch nicht gestattete, an
seinem Geschäftsleben teilzuhaben, ging Paolo auf eigene Faust einige Handel
ein, die sich anfangs vielversprechend anhörten. Es waren keine sauberen
Geschäfte. Es ging um Drogen, Glücksspiel, Waffen und Prostitution. Doch die
Geschäfte seines Vaters waren nicht viel anders gelagert, soviel hatte er
zumindest bereits herausgefunden.
Paolo wollte seinem
alten Herrn aber unbedingt beweisen, dass auch er in der harten Geschäftswelt
durchaus seinen Mann stehen könne. Und so investierte er heimlich Geld, das ihm
nicht gehörte, in dubiose Geschäfte, die sich anfangs sehr vielversprechend anhörten,
die ihn aber schlussendlich weit überforderten.
So ist dann einiges
schiefgelaufen, und nun sass Paolo ausgerechnet bei Emilio Reyna, dem grössten
Konkurrenten seines Vaters, mit fünf Millionen in der Kreide. Und Emilio Reyna,
genannt ‚der Weihnachtsmann’, da er das Kokainkartell beherrschte und somit der
Herr des Schnees war, war bekannt dafür, seine Schulden gründlich einzutreiben.
„Was meinst du, Fernando, soll ich den Eagle
versuchen oder auf Nummer sicher gehen?“, fragte Paolo seinen Caddie um Rat.
Sein Ball lag unmittelbar vor dem letzten Loch, etwa 70 Meter davon entfernt.
„Es wäre gefährlich, direkt aufs Loch zu
zielen, Señor Escobar. Wenn der Ball daran vorbeizieht, dann läuft er den Hang
hinunter in den Sandbunker. Wenn Sie zu weit nach links ziehen, dann landet er
womöglich im Teich. Ich würde Ihnen vorschlagen, den Ball zuerst vorsichtig
rechts ans Loch zu platzieren, wo der Boden einigermassen eben ist. Sie können
dann immer noch in aller Ruhe einen Birdie spielen und gewinnen.“
„Nun, ich denke, bei meinem heutigen Glück
kann überhaupt nichts schief gehen. Gib mir Eisen sieben.“
Fernando verzog das
Gesicht und nahm widerwillig das Eisen Nummer sieben aus der Tasche, einen
Treiber für mittlere Distanzen.
„Dios mio, wenn das nur gut geht“, brummte Fernando
und reichte den Schläger seinem Chef.
„Keine Sorge, Alter! Schliesslich liege ich
mit 3 Punkten vorn.“
„Gerade deshalb sollten Sie vorsichtig sein,
Señor Escobar.“
Paolo stellte sich mit
dem Schläger in der Hand neben den Ball. Er befeuchtete einen Finger im Mund
und streckte ihn in die Höhe, um die Windrichtung zu ermitteln. Dann kniff er
die Augen zusammen und prüfte nochmals die Distanz zum Loch. Mit beiden Händen
umfasste er nun fest den Griff des Schlägers, spreizte die Beine etwas
auseinander, beugte sich leicht nach vorne, wippte einige Male mit dem Schläger
vor dem Ball, um das Gefühl für dessen Gewicht und die Wucht des folgenden
Schlages in seine Hände zu bekommen, und blickte nochmals kurz zur Fahne rüber,
die das letzte Loch markierte.
Dann hob er den Schläger
nach links hoch und zog ihn in einer kräftigen Schlaufe voll durch. Ein Raunen
ging durch die Zuschauermenge.
Paolo traf den Ball
nicht direkt, sondern vielmehr die Grasmatte darunter. Die Sohle seines
Schlägers riss einen grossen Fetzen davon aus der Erde und schleuderte ihn
fort. Ein Schwall aus Sand und Erde prasselte auf Fernando nieder.
Trotzdem sauste der
Golfball hoch und flog in einem hohen Bogen genau auf das Loch zu. Das Publikum
begleitete den Schlag mit einem langgezogenen Oh, welches umso lauter wurde, je
näher sich der Ball dem Loch näherte.
Während der Ball auf das
Loch niedersauste, streckte daraus eine Ratte ihren Kopf empor. Sie hatte ein
verdächtiges Geräusch gehört und wollte nachschauen, was das war. Der Golfball
traf sie voll am Kopf und brach ihr das Genick. Ein Aufschrei des Entsetzens
entstieg der Zuschauerreihen.
Der Ball prallte vom
Kopf der Ratte ab, hüpfte nochmals hoch und rollte dann langsam den sanften
Hang hinunter. Er landete fünfzehn Meter hinter dem Loch im Sandbunker.
In den Reihen der
Zuschauer wurde es plötzlich still. Nur die aufgeregte Stimme des Reporters war
zu hören, der überhastet seinem Publikum zu berichten versuchte, was da gerade
passiert war. Die Kameras konnten sich nicht entscheiden, was sie aufzeichnen
sollten; den verblüfften Golfspieler, die tote Ratte oder den Golfball im
Sandbunker.
Paolo blickte zum
Schiedsrichter. Dieser blätterte nervös im offiziellen Regelbuch für
Golfturniere. Dann schaute er traurig zu Paolo rüber und zuckte resigniert mit
den Achseln.
„Dumm gelaufen“, sagte Fernando und klopfte
sich den Staub von seinem Hemd.
„Ja, dumm gelaufen“, sagte Paolo.
„So ein blödes Vieh. Das hat es nun davon“,
sagte Fernando, und Paolo sagte nichts, denn er versuchte sich vorzustellen,
wie sich die Ratte jetzt wohl fühlen mochte. Morgen würde er sich womöglich
ähnlich fühlen.
„Sie können immer noch einen Boogie schaffen, Señor
Escobar“, versuchte ihn der Caddie aufzumuntern.
Der Schlag aus dem Sandbunker heraus war Paolo völlig
misslungen. Er benötigte weitere drei Schläge, um seinen Ball endlich
einzulochen, und da er in seiner Frustration den Golfball im Sandbunker auch
noch mit dem Fuss traktierte, wurden ihm vom Schiedsrichter noch weitere zwei
Strafpunkte aufgebrummt.
Am Ende des Turniers war
Paolo dritter, knapp hinter dem amtierenden Champion Brian O’Hara und dem
Weltranglisten-Zweiten Herbert Shorter.
Bei der Preisverleihung im Clubhaus erhielt Paolo
eine bronzene Trophäe, die einen Golfspieler darstellte, wie er gerade seinen
Schläger hochhob, um damit einen Schlag zu vollführen. Ausserdem bekam er ein
Jahresabonnement für das clubeigene Fitnesscenter.
Das Jahresabonnement gab
er gleich an Fernando weiter. Er würde es nicht mehr brauchen. Er bahnte er
sich den Weg durch die Menge zum Ausgang. Die Reporter mit ihren Fragen und
ihrer Mischung aus Mitleid und Schadenfreude gingen ihm auf die Nerven. Jemand
klopfte ihm auf die Schulter.
„Gut gespielt, Señor Escobar!“, vernahm er
eine Stimme dicht hinter seinem Rücken. Paolo antwortete nicht, blieb nicht
stehen und schaute sich auch nicht um. Er war sich ziemlich sicher, dass die
Stimme einem von Emilio Reynas Männern gehörte.
„Wir sehen uns morgen, armer Junge!“, glaubte
er noch zu hören, als er beim Ausgang des Clubhauses war.
Er trat in den Abend
hinaus. Endlich war er allein. Er schaute sich nach seinem Wagen um. Während er
durch den Vorgarten des Clubhauses Richtung Parkplatz schritt, fiel ihm auf,
dass er noch immer die bronzene Trophäe in seiner Hand umklammert hielt. Er blieb
kurz stehen, hob das unförmige Ding hoch und schaute es sich nochmals an.
Der Golfspieler aus Bronze stand unverdrossen auf
einem Sockel aus Edelholz und streckte majestätisch seinen Schläger in die
Höhe. Die Abendsonne spiegelte sich auf seiner glitzernden Oberfläche. Am
Sockel war eine Messingplakette angebracht. Darauf waren die Worte eingraviert:
INTERNATIONALES GOLFTURNIER
SANTA MARIA DEL MAR 2005
3. PLATZ
Paolo glaubte zu spüren, wie ein beissender Hohn von der
Statue des Golfspielers ausging. Beim Parkplatz stand ein grosser
Müllcontainer. Dort warf er den Golfpokal hinein. Dann stieg er in seinen roten
Ferrari und fuhr davon.
Es wurde Nacht.